Der Harz - Ein Gesamtkunstwerk

Wer hier denkt, man sieht die Kultur vor lauter Bäumen nicht, der irrt gewaltig. Die Wälder des Harzes können mehr über eine einzigartige Kulturlandschaft erzählen, als man auf den ersten Blick annehmen mag. Schon der Name "Harz" leitet sich vom althochdeutschen Wort "Hart" für Bergwald ab. Und die heutige Bewaldung ist, wie man bald erfahren wird, in vielen Teilen ein Kunstprodukt. Die undurchdringlichen Nadelwälder sind nämlich Ergebnis einer Industrie, die den Harz besonders um Clausthal-Zellerfeld und Mansfeld veränderte und über viele Jahrhunderte den Harzern Lohn und Brot sicherte: der Bergbau. Dabei erwiesen sich die unterirdischen Schätze als so reichhaltig, dass sich speziell der Oberharz schnell zu einem der führenden Bergbaugebiete in Europa entwickelte. Das einzige Material zur Absicherung der Bergwerke und zum Schmelzen der Metalle, das Holz, verschwand bis zum Kahlschlag aus dem Harz und wurde von Menschenhand wieder herangezogen.
Heinrich Heine schrieb "Der Brocken ist ein Deutscher". Diese Feststellung kann man getrost auf den ganzen Harz ausweiten. Dabei spiegelt sich in dieser Landschaft deutsche Geschichte auf höchst unterschiedlichste Weise wider. Den historischen Höhepunkten mit nationaler, ja europäischer Bedeutung setzt der Harz seine lokale Geschichte entgegen, die die Weltgeschichte spiegelt oder an manchen Orten einfach konserviert. Die Zeugnisse aus der Zeit der Grundlegung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wie in Goslar und Quedlinburg sowie der wieder frei zugängliche Brocken als Sinnbild des wiedervereinten Deutschlands seien hier genannt.
Dieses allerorts zu findende Innehalten in der Zeit, zum Beispiel bei einem Gang durch liebevoll restaurierte Fachwerkstädtchen wir Hornburg, Duderstadt oder Wernigerode, versetzt den Besucher in eine andere Welt. Manche einzeln kaum wahrnehmbare Ereignisse oder Zeugnisse, die nur noch schwach durch den sie überlagernden Zeitenstrom leuchten, verdichten sich in ihrer Gesamtheit zur "Stimmungslandschaft" Harz.
Kultstätten und Hinkelsteine
Dass der Harz schon immer Menschen anzog, beweisen viele Funde. Sicher, Tourismus wird nicht der Grund ihres Kommens gewesen sein, aber die Völker der Bronzezeit (3000-1000 v. Chr.) hinterliessen den nachfolgenden Generationen sehenswerte Zeugnisse ihrer Kultur. Mysteriöse Menhire, merkwürdig in die Landschaft aufragende "Hinkelsteine", finden sich bei Benzingerode, Heimburg und Derenburg. Konkretere Spuren hinterliessen die alten germanischen Stämme: Deren Kultstätten befanden sich u.a. auf dem Hexentanzplatz, an der Teufelsmauer oder auf dem Regenstein. Doch auch anderorts an unerwarteter Stelle begegnet man heidnischem Vorfahren: Der Name Osterode soll angeblich auf die Frühlingsgöttin Ostara zurückgehen ...
Sollten eventuelle Rivalitäten zwischen den heutigen Harzrainerländern Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Thüringen auf alte offene Rechnungen zurückgehen? Das Volk der Thüringer, welches das Harzgebiet bevölkerte, wurde nämlich im Jahr 531 von den gemeinsam kämpfenden Sachsen und Franken vernichtend geschlagen. Doch auch der Verbund der Sieger überdauerte nicht die Zeiten: Die Sachsen, die sich zunächst in dieser Gegend ansiedelten konnte, wurden später durch den Frankenkönig Karl den Grossen (747-814) unterworfen. Ob die nun beginnende Christianisierung die wilden Sachsen frömmer machte? Jedenfalls fallen viele Klostergründungen Anfang des 9. Jahrhunderts wie in Halberstadt in diese Zeit.
Landschaft der Könige und Kaiser
Die Sachsen, nun christlichen Glaubens, arrangierten sich bestens unter der Herrschaft Karls des Grossen und seiner Nachfolger. Die sächsischen Regenten konnten ihre Machtposition sogar ausbauen. Dies sollte entscheidend für die weitere Geschichte des Harzes werden. Nach dem Erlöschen der fränkischen Herrscherlinie wurde die Königswürde dem Mächtigsten der sächsischen Stammesherzöge, nämlich Heinrich I. (um 875-936), angetragen. Dieser stammte, Sie ahnen es, aus dem Harzraum, genauer aus dem Gandersheimer Gebiet. Der nunmehrige König Heinrich I. begann mit dem Aufbau eines einheitlichen Reiches, in dessen Folge der Harz zur "Wiege Deutschlands", zum Kernland des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" wurde.
Die "Königslandschaft" Harz wurde vom 10. bis ins 13. Jahrhundert durch einen dichten Ring an Pfalzen und Burgen - heute noch zu bewundern u.a. in Quedlinburg, Goslar, Bad Harzburg - am Gebirgsrand entlang geschützt. Es galt einen kostbaren Schatz zu hüten: Mit seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die das Mittelgebirge mit seinem Metallreichtum an Silber, Blei, Kupfer und Eisen bot, hatte der Harz lange Zeit höchste, existenzielle Bedeutung für die deutschen Könige und Kaiser. Nur an wenigen Orten im Reich konnte Silber für die aufwändige Lebensführung der Wanderkönige und Metall für die Kriegsausrüstungen so schnell bezogen werden. Damit war das Harzgebiet Zentrum eines Reiches, das sich in seiner grössten Ausdehnung von der Nordseeküste, über Teile des heutigen Frankreichs und Polens bis nach Italien erstreckte!

Rivalitäten und Machtkämpfe
Mit dem Niedergang der Macht der grossen Könige begann die politisch-territoriale Zerstückelung des Harzes, die zwar verhinderte, dass der Harz sich als zusammenhängende Wirtschaftsregion herausbilden konnte, für den heutigen Besucher aber eine erstaunliche Vielfalt auf kleinstem Raum bereithält. Und wie hätten sich denn damals die Grafen, Fürsten und Herzöge zu Braunschweig-Lüneburg, Stolberg-Wernigerode, Regenstein-Blankenburg, Anhalt-Bernburg, Mansfeld und Hohnstein die freien Reichsstädte Goslar und Nordhausen, die Reichsabtei Walkenfried, das Reichsstift Quedlinburg und das Fürstentum Halberstadt - um nur ein paar zu nennen - einigen sollen? Sie taten es im Übrigen auch nicht, sondern versuchten kontinuierlich ihre eigenen Gebiete zu Lasten der anderen zu vergrössern.
Ein Märchenreich
Das ist nur die eine Geschichte. Aber der Harz hat auch andere. Unendlich viele. Sie ranken sich um idyllische Orte, wie die Sage von der sich badenden Prinzessin Ilse; sie deuten dem Bergmann unerklärliche Phänomene; sie verbinden Hoffnungen mit realen Hintergründen wie die des schlafenden Barbarossa im Kyffhäuser, der erwachen wird, um das Land zu "neuer Herrlichkeit" zu führen. Dabei ist der Harz immer noch heimliches Zentrum einer ganz anderen Macht - die der Hexen. Müssig Ihnen vom Hexentanzplatz, dem Brocken und den vielen Hexen dazwischen zu erzählen, Sie kommen sowieso nicht an ihnen vorbei.
Muse der Künstler
Als ob das nicht "genug" Kultur wäre, spielt der Harz seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige, aber ganz andere Rolle: die der Muse. Der Harz wurde zur Projektionsfläche für Literatur von Theodor Fontane, Wilhelm Raabe und, na klar, Johann Wolfgang Goethe und Heinrich Heine. Ebenso bildete er wildromantisches Motiv in den Gemälden Caspar David Friedrichs oder Ludwig Richters. Der Harz ist Gesamtkunstwerk!.
Herzlich Willkommen in einer über zweitausendjährigen Kulturlandschaft!